
COSIMA J. VON GRÖTZ
eine Geschichte von Katharina Cosima Johanna Grosch
Die Gemeinheit an der Sache ist: Das Herz muss man sich nur einmal brechen um sich auch für immer das zentrale Nervensystem zu ruinieren.
Es war kalt. Die Luft schien kein Staubkorn halten zu können. St. Petersburg am Anfang des 20. Jahrhunderts eben. Es war so kalt, dass beinahe alles zweidimensional war. Alles außer Kutschfarer Karl und seine Pferde Katrin und Kathleen. Drei- wenn nicht sogar vierdimensional standen sie gemeinsam frierend in einer stinkreichen Gegend. Kutschfarer Karl hatte sogar seine Thermounterwäsche an, obwohl er sich gänzlich unattraktiv darin fand. Besonders bei der Arbeit hatte er sie nicht gern an. Seine Kunden und Kundinnen kamen aus einer ganz anderen Welt als er, das war ihm klar, doch besonders wegen des Klassenunterschieds wollte er sich wie ein begehrenswerter Mann fühlen. Heute Morgen hatte er einen Anruf erhalten, er sei für den ganzen Tag gebucht. Fräulein Cosima J. Von Grötz habe viele wichtige Termine einzuhalten, er solle sich keine Gedanken machen, er werde ausreichend bezahlt. Darüber machte Kutschfahrer Karl sich auch keine Gedanken – keine negativen jedenfalls. Er mochte Fräulein Cosima J. Von Grötz, sie war spendabel und eine Kutschfahrt mit ihr war meist sehr witzig. Eine Frau mit Geld und Humor wird oft unterschätzt, fand Kutschfahrer Karl.
Fräulein Cosima J. Von Grötz eilte von einem elegantem und trotzdem sehr warmen Mantel umweht über die Straße hin zu Kutschfahrer Karls Wagen. Sie lächelte. Er lächelte auch. Sie stieg ein.
„Wohin als erstes?“
„Ach wissen sie, lassen sie uns den Tag langsam angehen!“
„Aber selbstverständlich Fräulein. Eine Spazierfahrt?“
„Gerne! Wie wäre es mit einer großen Runde durch den Yelagin Park?“
„Mit Vergnügen! Aber wissen sie Fräulein Cosima J. Von Grötz, ich glaube der Park existierte im St. Petersburg des 20. Jahrhunderts noch gar nicht“
„Hahaha, ach das ist doch egal! Oder fragen sie sich etwa auch, warum wir beide so deutsche Namen tragen?“
„Haha, nein – aber wo sie es sagen – hier scheint sich ja jemand wirklich gut mit St. Petersburg im 20. Jahrhundert auszukennen.“
„Hahahahahaha“, lachte Fräulein Cosima J. Von Grötz befreit.
„Hahahahahoho“, lachte Kutschfahrer Karl in einer etwas tieferen Stimmlage. „Hühott Kathleen! Hühott Katrin!“ Und los ging die lustige Fahrt. Während sie durch schneebedeckte Tannenwälder fuhren lachten sie laut, erzählten sich ihr Innerstes und nahmen zur aktuellen politischen Lage Stellung. Obwohl sie sich oftmals uneinig waren, konnten sie immer wieder zusammen lachen. Es war ein herrlicher Vormittag. Kutschfahrer Karl vergaß über die Zeit sogar seine Thermounterhose. Er saß ganz natürlich auf seiner Kutscherbank und fühlte sich schön.
„Kutschfahrer Karl, sein sie so gut und halten sie den Wagen für einen Moment an.“
Kutschfahrer Karl hatte keine Ahnung was es mit dieser Unterbrechung auf sich hatte. Normalerweise fuhr er einfach Runde für Runde bis Fräulein Cosima J. Von Grötz nun wirklich weiter zu ihren Terminen musste.
Fräulein Cosima J. Von Grötz stieg aus dem Wagen aus. Sie schloss die Tür sorgfältig und ruhig. Sie strich sich vier mal abgezählt über ihren Mantel, ging dann in behutsamen Schritten vor den Wagen. Sie stellte sich direkt vor Kutschfahrer Karl – das heißt direkt vor Katrin und Kathleen, so funktionieren Kutschen nuneinmal. Während sie Kutschfahrer Karl ins Gesicht lächelte kramte Fräulein Cosima J. Von Grötz ein kleines Päckchen aus ihrer Manteltasche. Es war in goldenem Stanniolpapier verpackt, darum eine zarte, dünne Schleife aus türkisgrüner Seide.
„Kutschfahrer Karl, hätten sie gerne etwas...“ , sie pausierte um den Kopf schief zu legen „… Marmorkuchen?“ Kutschfahrer Karl erwiderte die Frage zunächst nur mit einem Lächeln. Er legte den Kopf in die entgegengesetzte Richtung schief. „Ja.“
Fräulein Cosima J. Von Grötz machte drei große Schritte um Katrin und Kathleen rum, stellte sich auf Zehenspitzen und reichte Kutschfahrer Karl das goldene Päckchen hoch auf den Wagen. Kutschfahrer Karl wiegte es behutsam in seiner Hand. Es war schwerer als erwartet und das innere fühlte sich wohlig warm und feucht an. „Ich werde ihn später essen. Zu einer warmen Tasse Vodka. Ich werde ihn genießen.“ Fräulein Cosima J. Von Grötz richtete ihren Kopf wieder gerade, lächelte im vorbeigehen Richtung Kutschfahrer Karls Schläfe und stieg wieder in den Wagen ein.
„Hühott Katrin! Hühott Kathleen“ Sie fuhren noch eine Runde. Doch diesmal schwiegen sie. Kutschfahrer Karl konnte Fräulein Cosima J. Von Grötz‘ Blicke in der Behaarung seines Hinterkopfes spüren. Er zog seinen Kragen weiter in den Nacken. Doch sie hingen dort, die Blicke. Kathleens und Katrins Behaarung schwang frei durch die gefrorene Luft, Kutschfahrer Karls Behaarung wog nun mindestens eine Tonne und drückte ihn tief in seinen Sitz hinein.
„Karl?“
„Nennen sie mich Kutschfahrer.“
„Kutschfahrer?“
„Ja?“
„Wissen sie, die meisten Menschen sind im Inneren Marmorkuchen.“
„Wie?“
„Sie reden davon, dass sie nicht schwarz-weiß denken, sondern in Graustufen. Nicht in Vanille- Schoko sondern Nougat. Das ist eine Lüge, Kutschfahrer.“
„Das ist interessant, Fräulein Cosima J. Von Grötz.“
„Nicht wahr? In unserem Inneren gibt es zwei Teige, verstehen sie. Nicht einen einzigen vermischten.“
„Achso.“
„Man muss sich nur entscheiden.“
„Ah. ja.“
„Von Moment zu Moment.“
„hmh.“
„Und manchmal trifft man eine Entscheidung und dann muss man mit genau diesem Teig weiter leben.“
„Oh.“
„Nein nein. Es tut gut. Es tut gut seinen Teig zu ermächtigen.“
„Ah. Wahrscheinlich.“
„Kutschfahrer?“
„Ja?“
„Lieben sie mich?“
Kathleen schnaubte laut. Katrin hatte so eben einen Apfel fallen lassen und dabei weit mit ihrem Schweif ausgeholt.
„Ich mag sie.“, nuschelte Kutschfahrer Karl in einem winzigen Atemzug.
„Arschloch.“, nuschelte Fräulein Cosima J. Von Grötz
„Was sagen sie?“
„Nougat.“
„Wie?“
„Lieben sie mich? Und lassen sie das Nougat beiseite. Ganz oder gar nicht.“
Kutschfahrer Karl fühlte das Stanniolpapier in seinem Schoß knistern. Er hätte niemals seine Thermounterhose angezogen, hätte er geahnt, dass er heute ein derartiges Gespräch führen müsse. Er hätte die eisigen Minusgrade ausgehalten. Kutschfahrer Karl hielt den Wagen an und drehte sich um.
„Fräulein Cosima J. Von Grötz.“, das sagte er, als wäre es ein vollständiger Satz. „Ich möchte diese Kutschfahrten mit Ihnen niemals vermissen. Ich möchte nicht, dass das aufhört. Aber… Ich kann ihnen ehrlicher Weise nicht mehr schwören, als dass ich sie mag.“
Fräulein Cosima J. Von Grötz schmiss die Tür des Wagens auf, machte einen gewaltigen Sprung, drängte sich entschlossen zwischen Kathleen und Katrin. Sie stand direkt vor Kutschfahrer Karl.
„Öffnen sie das Päckchen!“, rief sie herasufordernd. Der eingeschüchterte Kutschfahrer Karl zog mit seinen Zähnen seine Handschuhe aus, zubbelte vorsichtig und ein wenig dümmlich an der seidenen Schleife, hob das Päckchen in die Höhe um das Staniolpapier sorgsam drum herum auszufalten.
„Meine Güte.“, seufzte Cosima J. Von Grötz.
Endlich hatte er es geschafft. Kutschfahrer Karl war kreide bleich. In der kleinen Schale, die seine Hand formte lag ein menschliches Herz. Das war kein Marmorkuchen, das war ein lebloses, tropfendes Herz.
„Lieben sie mich, oder lieben sie mich nicht?“
Unter Schock und ahnungslos wie eine angebrachte Reaktion auf solch eine Situation aussieht, warf Karl das Herz inklusive Verpackung mit ausgestrecktem Arm weit von sich weg.
„Sie sind ein Teigling, Kutschfahrer.“
Fräulein Cosima J. Von Grötz stapfte davon. Sie machte den Anschein, sie wolle ihr Herz aufsammeln, doch stattdessen holte sie zu einem gewaltvollen Schritt aus, um es zu zertreten. Kutschfahrer Karl beobachtete von weitem, wie Fräulein Cosima J. Von Grötz dann auf ihrem eigenem Herzen ausrutschte und sich auf dem harten St. Petersburger Boden des 20. Jahrhunderts das Genick brach und sich dabei ihr zentrales Nervensystem ruinierte.

Fotos von
Timotheé Deliah Spiegelbach